Herr Dr. Staritzbichler, wie sind Sie zum Thema Achtsamkeit gekommen?
Das Thema Achtsamkeit hat mich seit langem interessiert. Vor etwas über 25 Jahren habe ich begonnen zu meditieren. Zuerst ein paar mal mit Kassetten und seit 1996 buddhistische Meditationen. Seitdem praktiziere ich regelmäßig, eigentlich mehr oder weniger täglich.
Wie sehr ist das in ihrem Hochschulalltag integriert? Oder meditieren Sie nur zu Hause?
Meine wissenschaftliche Arbeit als auch meine Lehrtätigkeit am Institut für Medizinische Physik und Biophysik haben erstmal gar nichts damit zu tun. Ich praktiziere daher im privaten Rahmen. Aber ich habe jetzt begonnen, Achtsamkeit in meine reguläre Lehre zu integrieren.
Wie kam der Gedanke, Achtsamkeitsübungen in die eigene Lehre zu intergrieren, obwohl die Inhalte damit überhaupt nichts zu tun haben?
Das war ein längerer Weg. Durch Corona wurde mir nochmal mehr bewusst, wie hilfreich die Fähigkeit ist, Distanz zu den äußeren Bedingungen schaffen zu können. Insbesondere für Studierende. Damit man nicht die ganze Zeit in Einflüssen von Handy oder E-Mail oder Anderem gefangen ist, sondern dass man die Fähigkeit zu Filterung hat. Will ich mich äußeren Einflüssen aussetzen oder will ich mich zurückziehen? Diese Fähigkeit halte ich inzwischen für enorm wichtig. Meiner Meinung nach sollte diese Fähigkeit bereits viel früher, möglicherweise schon in der Grundschule, erlernt und so jedem zugänglich gemacht werden.
Wie kann man sich das vorstellen, wenn Sie Achtsamkeit in einem theoretischen Seminar für medizinische Physik einbauen?
Ich habe in meinen Seminaren angefangen, zum Einstieg mit den Studierenden eine kurze Atemmeditation zu machen. Es ist sehr einfach gehalten. Ganz am Anfang der Veranstaltung habe ich sie gefragt, ob da Interesse dran bestehen würde. Das Feedback war immer sehr gut. Teilweise waren sie wirklich begeistert von der Idee. Ich stelle mir dann eine Rückversicherung, das heißt ich spreche Leute an und versuche immer Rückmeldung einzuholen. Entweder von einer Gruppe als Ganzes oder von Einzelnen. Ich hatte bisher kein einziges negatives Feedback. Konkret fange ich mit ganz einfacher Meditation an. Beispielsweise der Wahrnehmung der Geräusche im Raum oder des eigenen Körpes. Wie man gerade sitzt. Dann beobachtet man den Atem, ohne irgendetwas daran zu ändern, ohne Absicht und ohne Bewertung. Die Übung ist relativ kurz, ungefähr drei Minuten.
Sie enthält noch eine kurze Anleitung, wie man mit Gedanken umgeht, die ja immer auftauchen. Zu bemerken, dass man abgeschweift ist und wieder zurückkehren zum Atem. Ohne daraus ein Problem zu gestalten oder sich zu verurteilen, weil man es nicht zu 100% hinbekommt. Das schafft ohnehin keiner. Das ist der Faden, an dem ich mich entlang bewege.
Wie waren denn die Reaktionen der Studierenden?
Ich glaube wichtig war, dass ich im Vorfeld den Sinn erläutert habe. Ich habe jetzt nicht nur gefragt: "Habt ihr Bock auf Meditation?", sondern habe das ein bisschen mehr motiviert. Gerade für Mediziner:innen hat das viele Ebenen. Zum einen für sie selbst. Denn sie haben eigentlich das anstrengendste Studium was man sich vorstellen kann. Zudem ist es für sie das Schwierigste, selbst zur Ärztin oder zum Arzt zu gehen. Das heißt, wenn sie ein Problem mit Überarbeitung oder ähnlichem haben, haben sie eigentlich wenig Möglichkeiten, da rauszukommen. Gleichzeitig sind sie diejenigen, die Patient:innen mit entsprechenden Problemstellungen betreuen müssen. Aus diesen Gründen kann man sehr gut rational argumentieren, warum es für sie ein sehr nützliches Werkzeug ist. Es war viel einfacher als ich dachte. Da war ich dann teilweise schon überrascht. Da ist sicherlich auch eine gewisse Gruppendynamik dabei und es gab Abstufungen. Die Reaktionen reichten von positiv-wohlwollend bis hin zu "Oh ja - bitte!", so richtig von tiefstem Herzen.
Gab es Veränderungen in den Seminaren?
Ich habe beispielsweise positives Feedback von Studierenden erhalten, die gerade aus einem anderen Kurs kamen und das als extrem wohltuend empfunden haben. Eine kurze Pause, um wirklich runter- und im Seminar anzukommen. Vorher ist manchmal sehr viel Leben in den Gruppen. Danach konzentrieren sich alle und sind dann voll dabei. Rein subjektiv würde ich sagen, dass es die Konzentration schon verbessert.
Wie haben Sie sich denn im Vorfeld selbst gefühlt ?
Diesen Schritt zu gehen, den Studierenden etwas anzubieten, was völlig außerhalb des Lehrplans liegt, hat mich einiges an Überwindung gekostet. Ich bin kein Missionar und war sogar etwas nervös beim ersten Mal. Letztlich motiviert hat mich dazu ein Gespräch mit Susanne Krämer von ABiK. Ich bin zufällig im Universitätsmagazin auf sie aufmerksam geworden. Im Grunde war es dann ein gemeinsames Kaffee trinken, durch das ich den Mut aufbringen konnte, aus diesem Standardpfad herauszutreten und Achtsamkeitsmeditation tatsächlich anzubieten. Danach ging es relativ schnell. Ich hatte dann bald wieder meine ersten Lehrveranstaltungen und es habe direkt damit begonnen. Es wurde sehr gut aufgenommen. Seitdem biete ch die Übungen immer wieder an.
Oftmals ist schon für den eigentlichen Inhalt im Seminar zu wenig Zeit. Wie bekommt man da noch eine Achtsamkeitsübung eingebaut?
Das stimmt. Ich habe so schon richtig großen Druck, den Stoff durchzubekommen. Da musste ich für mich erst mal die Balance finden. Es sind weniger als fünf Minuten am Anfang jeder Veranstaltung. Das kann ich eigentlich immer hinten dranhängen, aber viel Spielraum ist da nicht. Rein praktisch war klar, dass ich mich auf die paar Minuten beschränken muss. Es war ein Lernprozess. In Seminareinheiten, die besonders gefüllt sind, kann es sein, dass ich die Übungen je nach Gruppe auch mal weglasse. Aber meistens ziehe ich es durch. Es gibt viele Seminargruppen, die dem Ganzen sehr positiv gegenüberstehen, mit denen meditiere ich immer.
Möchten Sie nach Ihren bisherigen Erfahrungen daran festhalten oder noch etwas bestimmtes ausprobieren?
Ich dachte am Anfang, dass ich die Meditationen im Laufe des Semesters ausbauen würde. Aber für mich war es wesentlich stimmiger, zunächst bei einer Sache zu bleiben. Die Studierenden haben das Thema ja nicht aktiv gesucht und um Achtsamkeit zu lernen, sondern sind wegen der Lehrinhalte im Seminar. Deswegen schien es mir sinnvoller, an einer Stelle tiefer zu graben, statt zehn Sachen mit ihnen auszuprobiere. So ist der Eindruck und das, was hängen bleibt deutlich stärker. Wenn ich zukünftig eine eigene Vorlesungsreihe habe, möchte ich es auch dort anwenden.
Haben Sie noch ein paar Erfahrungstippss für andere Hochschullehrende, die überlegen Achtsamkeit in ihre Lehre zu integrieren?
Das, was ich probiert habe, funktioniert für mich gut. Man muss sich überwinden, man muss den ersten Schritt gehen. Für mich war er nicht einfach, die Überwindung war nicht klein. Der Austausch und mit jemandem zu reden, der so ähnlich tickt, das hat mir den letzten Anschub gegeben. Ich würde es auf jeden Fall neutral halten, entweder Atemübungen oder vielleicht einen Bodyscan. Mein persönliches Empfinden ist auch, dass man in der Wortwahl vorsichtig sein sollte. Ich habe zum Beispiel eher rationale Menschen vor mir, daher muss auch die Art eher rational geführt sein. Alles was esoterisch oder religiös interpretiert werden könnte, halte ich möglichst raus.
Dr. René Staritzbichler arbeitet und lehrt aktuell am Institut für Medizinische Physik und Biophysik der Universität Leipzig. Er hat am Kurs Achtsamkeitsbasiertes Hochschullehrenden Training MBTT® 1.0 des Projekts ABiK teilgenommen.
WEITERE INFORMATIONEN
- Interessierte Hochschullehrende können ab Oktober 2022 am Kurs Zertifikatsausbildung Achtsame Hochschullehrende (ZAH) teilnehmen. Es isnd noch Restplätze frei.
Mehr Erfahren - Ab dem WS 2022/23 wird es an der Universität Leipzig für Medizinstudierende im Wahlfach Vorklinik I ein Achtsamkeitsseminar geben: MSP - Mindful Student Program (Wahlfach Medizin).
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