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In der Lehrer:innenbildung spielt die Verknüpfung von theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen eine zentrale Rolle. Doch oft wird dem Lehramtsstudium unterstellt, zu theoretisch zu sein – die beständigen Forderungen nach einem stärkeren Bezug zur Praxis münden in manchen Bundesländern sogar zu dualen Lehramtsstudiengängen. Diese Debatte ist auch bei der Berufung von Professor:innen, die erziehungswissenschaftliche oder fachdidaktische Aufgaben übernehmen, von großer Bedeutung. Die Hochschullehrer:innen sollen laut sächsischem Hochschulgesetz bei Amtsantritt eine dreijährige Lehrpraxis an einer Schule nachweisen. Das soll offensichtlich einen Beitrag für den Praxisbezug des Lehramtsstudiums leisten. Das ZLS hat drei Persönlichkeiten der Universität Leipzig zur Relevanz dieser gesetzlichen Berufungsvoraussetzung sowie zu den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen befragt.

„Auf eine Stelle, deren Funktionsbeschreibung die Wahrnehmung erziehungswissenschaftlicher oder fachdidaktischer Aufgaben in der Lehrkräftebildung vorsieht, soll nur berufen werden, wer eine dreijährige Lehrpraxis an einer Schule nachweist“, heißt es im Sächsischen Hochschulgesetz, Paragraph §59, Absatz 4. Somit soll die Berufung von Professor:innen qua Gesetz an den Nachweis schulpraktischer Erfahrungen gebunden sein.

Es ist naheliegend, dass diese Thematik der Dekanin der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Brigitte Latzko, in Bezug auf Ausschreibung und Einrichtung von Professuren ununterbrochen begegnet. Prof. Heike Tiemann, Sportdidaktikerin an der Universität Leipzig, kann das nur bestätigen: „Dieser Passus in Bezug auf die Einstellungsvoraussetzungen wird in den Berufungskommissionen bei uns aber auch in anderen Universitäten bereits seit vielen Jahren kontrovers diskutiert.“ Und stellt seitdem nicht nur die Berufungskommissionen vor Herausforderungen, sondern auch die Bewerber:innen. 

Während Sarah Uhlemann mit diesem Thema in ihrer zweijährigen Tätigkeit als Lehrkraft im Hochschuldienst (LiH) an der Universität nach ihrer Einstellung – sie selbst musste eine zweijährige Berufserfahrung vorweisen – keine Berührungspunkte mehr hatte, sind Dekanin Prof. Latzko und Prof. Tiemann regelmäßig selbst gefragt, wenn es um eine Entscheidung in der Kommission geht. „Wir diskutieren das. Und fragen uns: welche Expertise möchten wir gewinnen, welche Professur möchten wir einrichten? Wie gehen wir mit der Forderung nach dreijähriger Schulpraxis um?“ Sinnvoll ist es laut der Fakultätsleiterin also, sich mit diesen Kriterien immer schon vor der Ausschreibung einer Professur zu beschäftigen, damit im Vorfeld klargestellt wird, was wirklich notwendig ist.

Prof. Tiemann ist eine von den Professor:innen in den Fachdidaktiken, die ein Lehramtsstudium absolviert und zudem an verschiedenen Schulformen gearbeitet haben. „Ich glaube, das hat mich sehr stark geprägt – in meiner Sicht auf diese Frage. Ich denke, das ist absolut notwendig.“ Sie ist große Unterstützerin des fraglichen Paragraphen im Hochschulgesetz, der einen Rahmen für eine entsprechende Schulpraxis schaffen soll. Vor allem im Bereich der Didaktik ist es ihrer Meinung nach „von größter Bedeutung, zumindest das zweite Staatsexamen zu haben. Also Schule auch außerhalb der eigenen Schüler:innen-Perspektive erlebt und zumindest im Referendariat bestimmte Erfahrungen gemacht zu haben, die dann letztendlich leitend sind für Forschung, besonders für vielfältige Perspektiven auf Unterrichtsforschung und letztendlich dann auch auf die Lehre.“ Sie selbst wurde, wie sie erzählt, von einem arrivierten Professor im Studium der Naturwissenschaften geprägt. „Ich wollte gern bei ihm arbeiten und promovieren. Ich fragte ihn, wie es aussieht? Und dann sagte er mir, dass sie schon genug Kolleg:innen in der Wissenschaft ohne Berufserfahrung hätten, die anderen erzählen würden, wie Schule geht. Machen Sie erst einmal ihr zweites Staatsexamen, gehen Sie in die Schule und dann kommen Sie in die Wissenschaft.“

Auch Sarah Uhlemann findet den Absatz prinzipiell positiv und wünschenswert. Wie Heike Tiemann ist sie sich sicher, dass Dozierende besonders authentisch im didaktischen Kontext sind, wenn sie auch Schulerfahrungen sammeln konnten: „An eigene Erfahrungen kann man anknüpfen. Tendenziell eher trockene Themen und Theorien kann man dadurch mit Leben füllen und so zu einer Verknüpfung anregen“, beschreibt sie die Wirkung, die schulische Praxiserfahrung im Rahmen der Hochschullehre konkret haben kann. 
Beide Hochschullehrerinnen binden versiert ihre Ich-Perspektive in die Lehre ein und spüren den positiven Effekt durch den erweiterten Blick, beeinflusst durch die eigene Erfahrungswelt. „Wenn ich von meinen eigenen schulischen Erfahrungswerten berichte, habe ich verstärkt das Gefühl, dass ich die Studierenden in diesen Momenten berühren, sie irritieren und sie zum Nachdenken anregen kann“, so Prof. Tiemann. 

Prof. Latzko bestätigt, dass es in der Didaktik sehr sinnvoll ist, tatsächlich auch als Lehrer:in tätig gewesen zu sein. Gleichzeitig hat sie als Dekanin die unterschiedlichen Disziplinen im Blick – sowohl das Institut für Bildungswissenschaften, dass die Expertise Psychologie und Pädagogik fürs Lehramtsstudium vorhält, als auch die Fach- und Didaktikprofessuren – und will das Thema somit differenziert betrachten. „Eine akademische Sozialisation hin zu einem Professor/einer Professorin für Psychologie z. B. beinhaltet grundständig keine dreijährige Lehrpraxis. Die ist nicht im Karriereweg vorgesehen.“ Forschende in den Bereichen der Pädagogik und Psychologie beschäftigen sich aber aus der Disziplin heraus mit der Entwicklung von Schulkindern – mit Entwicklungsaufgaben, mit Lernprozessen, der sozial-emotionalen Entwicklung und vielem mehr. In Bezug auf die verschiedenen Professuren innerhalb der Lehrer:innenbildung müsse bei der Berufung dementsprechend von Einzelfall zu Einzelfall geprüft werden, so Brigitte Latzko. Es solle für Professor:innen die Möglichkeit gegeben sein, Äquivalente zur geforderten Lehrpraxis an Schulen vorhalten zu können und nachzuweisen, dass sie beispielsweise im Schulkontext oder im Kindes- und Jugendalter geforscht oder auch in Transferprojekten gearbeitet haben. 

Der Passus schafft einen Rahmen, eine Orientierung, lässt aber auch Fragen offen und stellt die Kommissionen nicht selten vor Herausforderungen. „Wird hier tatsächlich gefordert, dass ich vor einer Klasse stand und als Lehrer:in tätig war? Oder geht es darum, dass ich aktuelle Bewegungen in der Bildungspolitik kenne, dass ich die Schule als Unterrichtsraum und Organisationseinheit kenne?“, führt Prof. Latzko den Diskurs an. 

Sarah Uhlemann findet zudem die zeitliche Einschränkung etwas problematisch. Sie fragt sich, was diese drei Jahre ganz konkret beinhalten sollten und welche Erfahrungen aus dem Schulalltag relevant sind. Mit 12 Jahren Schulerfahrung an berufsbildenden Schulen ist sie als LiH an die Universität gekommen und würde rückblickend sagen, dass sie nach drei Jahren Schulpraxis zwar einen Einblick in das System der berufsbildenden Schulen nicht aber das ganze Schulsystem (z.B. Steuerung, Leitungsebene, Gremien und Mitwirkungsmöglichkeiten) hätte überblicken können. Aus dem Paragrafen geht ihres Erachtens auch nicht hervor, ob die nachzuweisenden drei Jahre auch in Teilzeit oder alternativ zum Beispiel an einer Volkshochschule abgehalten werden können. Zählen Referendariat sowie Praktika mit – welche Erfahrungen, wie z. B. Klassenleitung, Abnahme und Erstellung von Prüfungen, Mentoring sowie konzeptionelle Arbeit, gelten als relevant? 

Den Aspekt des Zeitraumes der gemachten Erfahrungen greift Sarah Uhlemann zusätzlich auf: Als Berufsschullehrerin „bilde ich eigentlich einen Beruf aus, der stetig im Wandel ist. Wenn ich nicht weiterhin und aktuell in die Praxis gehen würde, dann könnte ich mit meinen Erfahrungen, die ich vor 20 Jahren gemacht habe, in der heutigen Zeit gar nicht mehr anknüpfen.“ Generell gilt für den Lehrberuf – wenn es den Austausch zwischen Universität, Schule und Schulpraxis nicht geben würde, ist die Möglichkeit groß, dass aneinander vorbei gelehrt wird. Das Interesse an Schule, aktive Teilnahme, Austausch, regelmäßige Schul- und Praktikumsbesuche während der Lehrtätigkeit sind für die abgeordnete Lehrerin fast wichtiger als die geforderte dreijährige schulische Lehrpraxis, die unter Umständen zwanzig Jahre zurückliegt. Wie zeitgemäß ist eine Lehre, die sich auf Praxiserfahrungen bezieht, die Jahrzehnte zurückliegen und immer wieder anekdotisch aufgewärmt werden? Den stetigen und frischen Einblick in die Schule nimmt sie selbst als einen großen Zugewinn wahr. Ihre Erlebnisse aus der Praxis nutzt sie, um berufliche und vor allem aktuelle Handlungssituationen zu erstellen. 

Für Prof. Tiemann ist die im Gesetz verankerte Forderung in der Realität kaum umzusetzen. „Aus dem Sportkontext kann ich sagen, dass die Minderheit dieses Schulpraxiserfordernis erfüllt.“ Hochschulen können sich ihrer Erfahrung nach bei Ausschreibungen kaum mehr erlauben, das als Muss-Kriterium zu formulieren. „Personen mit Schullaufbahn haben bei der Bewerbung auf eine Professur meist Nachteile, weil sie aufgrund der Zeit im Schuldienst selten eine vergleichbare Publikationsliste und häufig geringere Drittmittelsummen nachweisen können. Sie sind dann weniger konkurrenzfähig.“, fasst sie zusammen. Wie Dekanin Latzko wünscht sie sich mit Blick auf zwei wesentliche Voraussetzungen innerhalb der Hochschullehre – Distanz und Professionalität – für die Lehrkräftebildung zugleich, dass Erfahrungen im Praxisfeld Schule immer auch an eine wissenschaftliche Expertise gekoppelt sind. 

Alle drei sind sich letztlich einig, dass der Passus sinnvoll ist und beibehalten werden muss – auch in dieser offenen Form. „Wenn wir diesen Passus nicht hätten, würden wir den Diskurs nicht führen. Und durch den Passus sind wir gezwungen, immer wieder gemeinsam zu überlegen, was eigentlich Ziel und Forderung der Regelung ist?“, so Prof. Latzko. Sie nimmt diesen Diskurs als sehr fruchtbar wahr: „Wir verdeutlichen uns dadurch immer wieder, dass wir im Bereich der Lehrer:innenbildung tätig sind und alle Inhalte, die wir aufbereiten, letztendlich dazu beitragen sollen, Lehrerprofessionalität zu erhöhen und Lehrkräfte lange Zeit mit hohem Wohlbefinden und gesund im Schulsystem zu halten.“